Matthias Zehnders Wochenkommentar

Das wahre Problem der «fetten Kinder» in der Literatur

Matthias Zehnder Season 3 Episode 13

Ist es Kindern und Jugendlichen zumutbar, von «fetten Kindern» zu lesen? «Nein» fand der Londoner Verlag Puffin Books und überarbeitete die Kinderbücher von Roald Dahl. Vielleicht haben Sie davon gehört. Mir hat der Entscheid zu denken gegeben und zwar nicht nur, weil da schon wieder ein Kinderbuchklassiker umgeschrieben wird. Denn in der Realität haben wir ein immer grösseres Problem mit stark übergewichtigen Kindern. Experten reden von einer eigentlichen Adipositas-Epidemie. Besonders absurd: Bei einem der redigierten Bücher handelt es sich um «Matilda», eine Geschichte, die davon handelt, dass Kinder Superkräfte haben, wenn sie nur auf sich vertrauen. In meinem Wochenkommentar sage ich Ihnen, was das alles mit unserer Gesellschaft zu tun hat und warum es vielleicht kein Zufall ist, dass es Erwachsene gibt, die nichts mehr von «fetten» Kindern lesen wollen.
https://www.matthiaszehnder.ch/

Matthias Zehnder ist Autor und Medienwissenschaftler in Basel. Er ist bekannt für inspirierende Texte, Vorträge und Seminare über Medien, die Digitalisierung und KI.
Website: https://www.matthiaszehnder.ch/
Newsletter abonnieren: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/
Unterstützen: https://www.matthiaszehnder.ch/unterstuetzen/
Biografie und Publikationen: https://www.matthiaszehnder.ch/about/

Ist es Kindern und Jugendlichen zumutbar, von «fetten Kindern» zu lesen? «Nein», fand der Londoner Verlag Puffin Books und überarbeitete die Kinderbücher von Roald Dahl. Vielleicht haben Sie davon gehört. Mir hat der Entscheid zu denken gegeben und zwar nicht nur, weil da schon wieder ein Kinderbuchklassiker umgeschrieben wird. Denn in der Realität haben wir ein immer grösseres Problem mit stark übergewichtigen Kindern. Experten reden von einer eigentlichen Adipositas-Epidemie. Besonders absurd: Bei einem der Bücher handelt es sich um «Matilda», eine Geschichte, die davon handelt, dass Kinder Superkräfte haben, wenn sie nur auf sich vertrauen. In meinem Wochenkommentar sage ich Ihnen, was das alles mit unserer Gesellschaft zu tun hat und warum es vielleicht kein Zufall ist, dass es Erwachsene gibt, die nichts mehr von «fetten» Kindern lesen wollen.


Mein Name ist Matthias Zehnder – ich gebe Ihnen hier jede Woche zu denken.

Mein Thema: Medien und die Digitalisierung.

Mein Angebot: Konstruktive Kritik.

Wenn Ihnen das gefällt, drücken Sie doch den Knopf für Abonnieren, dann verpassen Sie meinen nächsten Kommentar nicht. 


Die Aufregung war gross. Das «Magazin» des «Tages-Anzeigers» sprach von einem «Operationsfehler der Sprachchirurgie», die deutsche «Welt» von einem «Bereinigungsfuror» der «Spiegel» von «Zensur». Stein des Anstosses ist eine neue Ausgabe der Kindergeschichten von Roald Dahl: Puffin Books hat vermeintlich anstössige Formulierungen aus Werken wie «Matilda» oder «Charlie und die Schokoladenfabrik» entfernt. Der Verlag wollte die Geschichten so für ein modernes Publikum akzeptabler machen. Dabei ging es nicht nur um vermeintlich rassistische oder sexistische Beschreibungen. Zu diskutieren gab, dass in der neuen Ausgabe von «Charlie und die Schokoladenfabrik» Augustus Glupsch, der dicke Gegenspieler von Charlie, nicht mehr «enorm fett» ist, sondern nur noch «enorm» ist.


Nun kann man sich über solche Anpassungen natürlich trefflich aufregen. Das deutsche Feuilleton hat das auch hinlänglich gemacht, Protestnoten prominenter Schriftsteller inklusive. So hat zitiert der «Spiegel» zum Beispiel Salman Rushdie. Roald Dahl sei kein Engel gewesen, aber diese Veränderungen, das sei «absurde Zensur». Verlag und Dahl-Erben «sollten sich schämen.» Das «Magazin» spricht von «gravierende Veränderungen», von «eigenmächtigen Säuberungen und, nennen wir die Sache ruhig beim Namen, bewusst vorgenommene Verfälschungen.»


Ich persönlich kann mich dem nur anschliessen: Dieses nachträgliche, sagen wir mal, Redigieren von literarischen Werken ist etwa so, wie wenn man dem David von Michelangelo aus Sittlichkeitsgründen eine Badehose über das Gemächt ziehen würde. Das ist gar nicht so abwegig: In Florida hat gerade eine Schulleiterin ihre Stelle verloren, weil sie im Kunstunterricht ebendiesen nackten David zeigte. Der Vorsitzende der Schulbehörde hat die Lehrerin wegen der Verwendung «pornografischen Unterrichtsmaterials» belangt. Amerikanische Medien berichten, die Frau sei von Polizisten abgeführt worden. Hätte der David eine Badehose getragen, wäre das nicht passiert.


Wir können uns, wie gesagt, über solche Banausereien trefflich aufregen. Wir könnten uns aber auch fragen, wie es überhaupt dazu kommt. Dass viele Amerikaner sich an Nacktheit stören, lässt sich historisch erklären: Schliesslich haben wir im 17. und 18. Jahrhundert die Puritaner aus Europa verjagt. Sie sind mehrheitlich nach Nordamerika geflüchtet. Ihren Puritanismus haben sie mitgenommen. So weit, so klar. Aber warum dürfen Kinder in Büchern nicht «fett» sein?


Jetzt kann man argumentieren, dass dicke Kinder von jeher ausgegrenzt worden seien. Dass sie verspottet und verschämt würden und dass es darum gehe, Kindern vorzuleben, dass alle Körpergrössen gleichberechtigt sind. Eine sensible Sprache verspottet deshalb weder sehr kleine, noch sehr gross gewachsene Kinder, weder rothaarige, noch andersfarbige und auch nicht Kinder, die besonders dick, ja fett sind. 


Lassen wir das mal so stehen. Auch dann gibt es aber einen grossen Unterschied zwischen einem  rothaarigen, einem andersfarbigen oder einem besonders grossen Kind einerseits und einem Kind, das besonders fett ist andererseits: Anders als Rothaarige und People of Color kommen dicke Kinder in aller Regel nicht schon dick zur Welt. Fettleibigkeit ist zudem in den meisten Fällen kein unausweichliches Schicksal. Es ist nur in ganz seltenen Fällen genetisch bedingt, etwa durch eine angeborene Stoffwechselerkrankung. Nein: Dicke Kinder sind dick, weil ihre Eltern und ihr Umfeld sie falsch ernährt haben. 


Und das ist leider keine Seltenheit. Im Gegenteil. Der Hamburger Ernährungsmediziner Matthias Riedl spricht von einer eigentlichen Adipositaswelle bei Kindern: in Deutschland sind bereits 16 Prozent der Kinder übergewichtig, sechs Prozent sind adipös. In der Schweiz sind 15 Prozent der Kinder übergewichtig. Bei den Erwachsenen sind es in der Schweiz 42 Prozent, in Deutschland ist bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig. Weltweit ist die Zahl der Übergewichtigen mittlerweile grösser als die Zahl der Unterernährten. Ich weiss übrigens, wovon ich rede, ich kämpfe seit Jahren gegen mein Übergewicht. 


Damit wir uns recht verstehen: Wir reden nicht von einem ästhetischen Problem oder einem Modediktat. Es geht nicht darum, dass man besser aussieht, wenn man schlanker ist. Es geht um eine medizinische Diagnose: Übergewicht führt in sehr vielen Fällen zum metabolischen Syndrom, also Bluthochdruck sowie Störungen des Zucker- und Fettstoffwechsels. Das ist gravierend. Eine Folge davon ist Diabetes 2. Ernährungsmediziner Riedl sagt, dass Diabetes 2 früher eine reine Alterserkrankung war. Heute konsumieren schon Kinder so übermässig Zucker, dass es bereits in den frühen Erwachsenenjahren zu Diabeteserkrankungen kommt. Und damit zu einer massiv erhöhten Gefahr von Herz- Kreislauferkrankungen, Hirnschlag und Demenz. Fettleibigkeit ist definitiv kein ästhetisches Problem. Es ist in erster Linie eine medizinische Diagnose. 


Wenn schon so viele Kinder so massiv übergewichtig sind, haben wir als Gesellschaft ein Problem. Es bedeutet, dass die Gesellschaft nicht in der Lage ist, die Kinder gesund zu ernähren. Riedl gibt der Lebensmittelindustrie die Schuld: Ein grosser Teil der Produkte in einem Supermarkt sind zu kalorienreich, zu salzig und sie enthalten vor allem viel zu viel Zucker. Am schlimmsten sind hochverarbeitete Nahrungsprodukte. Dazu gehören etwa Frühstücksflocken mit einem Zuckeranteil von 30 Prozent, süsse Snacks für Kinder, Fertiggerichte und viele Softdrinks. Die Evolution hat uns Menschen auf süsse Lebensmittel programmiert. Während Jahrtausenden waren süsse Früchte überlebenswichtig. Leider können wir unsere Instinkte nicht so rasch von Savanne auf Supermarkt umstellen. Zumal in den Regalen Produkte wie Ketchup oder Fruchtjoghurt stehen, denen man den hohen Zuckeranteil nicht ansieht. Auch nicht, wenn man das Kleingedruckte liest: Da kann Zucker nämlich auch als Glukose, Laktose oder Maltose deklariert sein.


Ein dramatisches Resultat dieser überzuckerten Lebensmittel sind die anschwellenden Bäuche bei Kindern. Ernährungsmediziner Riedl spricht von einer eigentlichen Adipositaswelle bei Kindern. Schwer übergewichtige Kinder haben Probleme mit Bluthochdruck, mit den Blutfettwerten und mit den Blutzuckerwerten. Es sind Probleme, die bisher nur bei wesentlich älteren Menschen aufgetreten sind. Früher sprach man von «Altersdiabetes», heute leidet bereits ein Prozent der übergewichtigen Kinder darunter. 


Wer ist dafür verantwortlich? Ich würde ganz allgemein sagen: Wir als Gesellschaft. Weil wir es zulassen, dass in Supermärkten dermassen schädliche Nahrungsmittelprodukte verkauft werden. Weil wir es zulassen, dass die Kinder im Fernsehen Werbung ausgerechnet für diese Produkte sehen. Weil wir es zulassen, dass sie in der Schule, in der Kita, nicht besser ernährt werden. 


Grossbritannien hat reagiert und eine Zuckersteuer eingeführt: Getränke, die mehr als fünf Gramm Zucker pro Hundert Milliliter enthalten, werden mit einer Sondersteuer belegt. Zweck der Steuer ist explizit die Bekämpfung der Fettleibigkeit bei Kindern. Seit Einführung der Steuer ist die Menge des mit zuckerhaltigen Getränken verkauften Zuckers in England fast um einen Drittel zurückgegangen. Einerseits haben die Kunden ihr Kaufverhalten verändert, andererseits haben die Unternehmen reagiert und die Zuckermenge in den Produkten angepasst. 


In der Schweiz sieht man keinen Handlungsbedarf (respektive: man will den Zuckerrübenbauern das Geschäft nicht vermasseln). Die politische Rechte findet sowieso, der Staat solle sich aus dem Essen der Menschen raushalten. «Essen ist vor allem eins: Privatsache», schreibt die «NZZ». «Der Staat soll nur in Ausnahmefällen in die Freiheiten der Menschen eingreifen. Beim Entscheid über die Ernährung gibt es nur wenig Grund dafür.» Ganz abgesehen davon sei das Problem übertrieben: «Manche Menschen fühlen sich mit den überzähligen Kilos wohl.» Kurz: Die «NZZ» plädiert für Eigenverantwortung. Ein Wort, das in einem durchschnittlichen Kindergarten den wenigsten Kindern geläufig sein dürfte.


Mir scheint, wir als Gesellschaft sind verantwortlich für das Wohlergehen unserer Kinder. Sind sie zu dick, ist das unser aller Problem, weil sie über kurz oder lang schwer krank werden. Vor diesem Hintergrund scheint es mir geradezu zynisch, wenn ein Buchverlag aus Gründen der Sprachsensibilität das Wort «fett» aus seinen Büchern streicht. Das Problem ist nicht, dass wir Kinder verletzen könnten, wenn von fetten Kindern die Rede ist. Das Problem ist, dass wir es zulassen, dass so viele Kinder fett werden. Wenn wir nun nicht mehr von fetten Kindern reden, verhalten wir uns wie ein Kind, das die Hunde vor die Augen hält und sagt: «Gäll, du sehsch mi mit?»


Nun gehe ich davon aus, dass den meisten Menschen diese Zusammenhänge bewusst sind. Dass wir unsere Kinder mästen. Dass sie das krank macht. Warum also das Bedürfnis, die fetten Kinder aus den Büchern zu eliminieren? Vielleicht spricht daraus ein Schuldbewusstsein: Die Gesellschaft macht «fette Kinder» zum Tabu, weil sie nicht an ihre Schuld erinnert werden will.


Könnte es sein, dass das auch für andere Streichungen gilt? Könnte es also sein, dass unsere Gesellschaft dazu neigt, Indianer und Chinesen, Hexen und viele andere aus Kinderbüchern zu streichen, weil sie nicht an ihre Schuld im Umgang mit ihnen erinnert werden will? Kann es sein, dass das Redigieren von Kinderbüchern nicht aus Gründen der Sprachsensibilität erfolgt, sondern aus Scham, aus Furcht, der eigenen Vergangenheit ins Gesicht zu schauen? Es wäre ein Grund, auf all das Redigieren zu verzichten, die harten Wörter in den Geschichten zu lassen und sie zum Anlass zu nehmen, die verdrängten Themen mit den Kindern zu thematisieren. Auch und gerade die «fetten Kinder».


Soviel für heute. Drücken Sie doch noch schnell den Abonnieren und den Gefällt mir Knopf, dann hören wir uns in einer Woche wieder.

Alles Gute.